Dorit Steenhusen: Eulenspiegel
Neulich war ich mal wieder nachts unterwegs. Der herbeigesehnte Schlaf wollte nicht kommen und Durst hatte ich auch. Also schlich ich mich leise aus dem dunklen Schlafzimmer und ließ die üblichen Schnarchgeräusche hinter der nun wieder verschlossenen Tür. Auf dem Flur machte ich kein Licht, schließlich konnte ich blind durch die Wohnung finden. Mit müden Augen und ebensolchen Füßen schlurfte ich am großen Spiegel vorbei und… stockte. Etwas stimmte nicht. Aber was?
Mühsam öffnete ich meine Augen etwas weiter und erschrak. Zwei große runde, gelb leuchtende Augen sahen mich an! Einbrecher! Gerade wollte ich schreien, da hörte ich hinter mir eine schnarrende Stimme. „Nun mach keinen Aufstand! Lass deinen Alten schlafen. Das hier geht nur uns beide etwas an.“ Wie angewurzelt blieb ich stehen, und die Haare auf meinen Armen richteten sich auf.
„Wer bist du? Und was willst du von mir? Bitte, lass mich leben, ich hab noch so viel vor!“ Kaum hörbar und ziemlich flehend stieß ich diese Worte hervor. Ich erntete ein krächzendes Gelächter, unheimlich und unmenschlich.
„Hu, hu, hu, wieso seid Ihr Menschen nachts nur so blind? Sieh doch mal genauer hin und dann sag mir, welche Gefahr von mir ausgehen sollte. Aber wir verplempern hier nur kostbare Zeit. Eine Stunde, mehr haben wir beide nicht. Also, reiß dich zusammen!“
Widerstrebend trat ich näher an den Spiegel. Inzwischen hatten sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt. Ich entdeckte die Umrisse einer … Eule. Die Ähnlichkeit mit derjenigen, die seit Jahren steinern in meinem Schrank stand, war verblüffend. „Wieso…“, weiter kam ich nicht. Gewohnt zu dominieren, erklärte mir diese Eule, von der ich glaubte, sie zu kennen, dass ich meinen Schnabel halten sollte.
„Hör mir doch endlich einmal zu! Ich wollte schon so lange mit dir Kontakt aufnehmen, aber bisher war die Zeit noch nicht reif dafür gewesen. Heute ist der ideale Zeitpunkt, also nutzen wir ihn. Ich hab dir einiges zu erzählen. Fangen wir mit deiner Sammelleidenschaft an. Hast du etwa geglaubt, es wäre zufällig, dass du dich für Eulen entschieden hast? Ha, ha, nein, dahinter gibt es einen Plan.“
Als ich etwas einwenden wollte, fiel sie mir sofort ins Wort. „Nun halt endlich einmal die Klappe! Sagt Ihr nicht, Eulen seien weise? Wir sind es wohl auch. Jedenfalls wissen wir eine Menge. Und wir sehen besonders gut nachts, wenn alles im Verborgenen geschieht. Doch uns entgeht nichts. Wenn ich es einmal bemerken darf, so hast du wirklich eine gute Wahl mit deiner Sammlung getroffen. Es ist angemessen, besonders für dich. Keine Widerrede, Ruhe! Wahrscheinlich hast du schon von Totemtieren gehört, aber nur im Zusammenhang mit Indianern.
Als würde das einen Unterschied machen! Es gibt welche, und die sind allgemeingültig. Und zufällig, ganz zufällig, bin ich genau dein Totemtier!“
Mir blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Da stand ich nun mitten in der Nacht vor einem Eulenspiegel, obwohl ich wirklich nicht Till hieß, und in Mölln wohnte ich auch nicht. Doch lange konnte ich nicht darüber nachdenken. Diese Eule, die ziemlich herrschsüchtig zu sein schien, redete sogleich weiter. „Ja, auch die Indianer verbinden mit der Eule große Gelehrigkeit und die Fähigkeit, besonders detailfreudig zu sein. Willst du weitere Eigenschaften wissen, die man uns und unseren Schützlingen, den Menschen, nachsagt? Mutige Helden soll man unter ihnen finden. Nun, davon kannst du natürlich nur träumen, nicht wahr?“ Ich fühlte mich beschämt. Wieso sollte dieses Wesen mir so tief ins Herz sehen können? Ich schlug meine Augen nieder.
„Nun, man kann wirklich nicht alles haben. Sonst wird dir noch dein Selbstvertrauen abhanden kommen, und das willst du doch nicht! Du brauchst es, um deine Freiheit leben und ausdrücken zu können, auch das sind weitere Eigenschaften der Eulen, der menschlichen und der ihrer Krafttiere. Und… das hab ich bei dir schon häufiger beobachten können: Eulen neigen dazu, sich selbst zu überfordern. Du nickst, hast dich wohl nicht nur dabei erkannt. Ja, ich bin wirklich dein Krafttier, dein Totemtier, und wie du siehst, passt das alles gut zusammen, nicht wahr? Ich und du, wir beide, können gemeinsam eine ganze Menge bewirken. Ich kann dich stärken, wenn du Hilfe brauchst, wenn du verzagt bist oder wenn dein Selbstwertgefühl einmal wieder unter dem Nullpunkt ist. Vielleicht kann ich dir sogar dabei helfen, ein wenig mutiger durchs Leben zu gehen. Du musst es nur wollen.“
So ganz verstand ich das alles noch immer nicht, andererseits fühlte es sich durchaus real an. Fing ich jetzt an zu
spinnen? Wenn ich jemandem von diesem Erlebnis berichten würde, würden alle nur mit den Augen rollen und an meinem Geisteszustand zweifeln. Ich fühlte mich ja selber ziemlich ungemütlich, nicht nur wegen der Situation an sich. Auch dieser Spiegel, dieser Eulenspiegel, der mir hier vorgehalten wurde, fühlte sich unbehaglich an.
„Unsere Zeit ist gleich wieder um. Darum lass es mich noch einmal wiederholen, meine Liebe: wir beide gehören zusammen, auch wenn ich vielleicht nur in dieser einen Nacht zu dir sprechen kann. Aber du kannst mit mir sprechen, wenn du Probleme hast. Und vielleicht hörst du dann meine Antwort, wenn du still bist und in dein Herz horchst. Wir beide bleiben für immer zusammen, wie wir es auch früher schon waren. Doch da wusstest du es noch nicht. Jetzt wird es leichter für dich sein, dich mit mir zu verbinden. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit!“
Nach diesen Worten erloschen die beiden Lichter im Spiegel. Ich stand da und starrte in die Dunkelheit, kniff mich in den Arm und schüttelte meine Verwunderung von mir. Nun brauchte ich wirklich ein großes Glas Wasser! Das würde mich wieder in die Gegenwart zurückbringen. Eigentlich glaubte ich nicht wirklich, was mir eben geschehen war. Andererseits konnte es nicht schaden, mich mit den Fähigkeiten der Eule zu identifizieren. Und Hilfe, ja, die konnte ich wirklich gebrauchen! Warum nicht von einem Totemtier?
Dorit Steenhusen
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