Belletristik

Tom Rob Smith: Kind 44

„Kind 44“ ist ein politischer Thriller der Extraklasse, der in Moskau bzw. der Sowjetunion der ausgehenden Stalin-Ära spielt. Übel zugerichtet wird ein Kind nahe der Bahngleise tot aufgefunden. Doch das sozialistische Menschenbild lässt Morde nicht zu. Darum wird der Tod zum Unfall erklärt.

Etwa zeitgleich verlangt der NKWD (sowjetischer Geheimdienst) von Leo Demidow, der sich im Krieg und bei der Verfolgung von unzähligen sogenannten Staatsfeinden verdient gemacht hat, einen neuen Loyalitätsbeweis. Er soll seine Frau Raisa denunzieren. Obwohl ihre Ehe mehr eine friedfertige Übereinkunft ist, kann sich Leo dazu nicht entschließen.

Entgegen seiner inneren Überzeugung stößt der Leo außerdem auf Hinweise auf einen Serienkiller, der mordend durchs Land zieht. Leo sieht sich gezwungen auf eigene Faust zu ermitteln und gerät damit selbst ins Visier des Geheimdienstes. Erschwert wird sein Vorgehen außerdem dadurch, dass durch das geschönte Menschenbild in der UdSSR keinerlei kriminalistische Erkenntnisse über das Psychogramm von Serientätern vorliegen. Bei seiner Jagd nach dem Killer erlebt er am eigenen Leib wie die Atmosphäre von Angst und Denunziation selbst vor nächsten Angehörigen nicht Halt macht. Auf den Dörfern fern von Moskau und in den Gefangenentransporten in die Gulags wiederum ist die Ablehnung des Systems so stark, dass wildfremde Leute bereit sind, für Leos Überzeugungen und das Leben unschuldiger Kinder ihre eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen.

Dem 1979 geborenen Engländer Tom Rob Smith hat mit „Kind 44“ einen Roman geschrieben, der sich in seiner Anlage als Thriller stark von den sowjetischen Perestroika-Romanen wie „Wir Kuckuckskinder“ oder „Die Kinder vom Arbat“ abhebt, trotzdem aber ein authentisches Bild auf die ausgehende Stalin-Zeit wirft. Im Mittelpunkt steht der sich vom Geheimdienstoffizier zum Kriminalisten wandelnde Leo Demidow, der sämtliche gesellschaftliche Position verliert, zugleich aber einen völlig neuen Blick auf seine Umwelt und seine Frau Raisa gewinnt. Zu seinem grausamsten Gegenspieler wird sein Kollege und ehemaliger Untergebener Wassili, der über persönliche Rachegelüste nicht hinauswachsen kann und Leos Ermittlungen zu stören versucht. In den finalen Show-down gehört schließlich noch eine unerwartete familiäre Entwicklung, die Leo im letzten Moment fast an seiner Aufgabe scheitern lässt. In Erzählerkommentaren und inneren Monologen macht Tom Rob Smith deutlich, wie intensiv er sich mit dem stalinistischen System auseinander gesetzt hat, auch wenn er es darüber hinaus aus erzähltechnischen Gründen dramatisch zuspitzt.

„Kind 44“ ist im DuMont Buchverlag erschienen und wird derzeit in 17 Sprachen übersetzt.