Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Es ist das schönste und interessanteste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.

Das Schöne:
Christa Wolf verflicht ihre Empfindungen und Gefühle zu historischen
Ereignissen und der heutigen Zeit und erlebt einmal mehr in einem ihrer Bücher die schmerzliche Suche nach Wahrhaftigkeit.

Das Interessanteste:
Diese „patch-work“ – um mit den Worten der Autorin zu sprechen – ist spannend gewebt. Viele Kontakte mit den Scholaren, Freunden oder fiktiven Personen und ihren Ansichten werden verbunden mit Träumen, Reflexionen oder Dialogen zur Handlung des Romans.

Christa Wolf weilte 1992 für neun Monate auf Einladung des Getty-Centers for History of Art and Humanities zum Studienaufenthalt in Los Angeles.
Sie lebte dort in einer Scholar-Society mit ungefähr 14 jungen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Ländern mit verschiedenen Berufen.
Durch diese Freunde lernt sie mehr über Los Angeles als es ihr normalerweise möglich gewesen wäre.
Sie schildert uns die Faszination, die diese Stadt auf sie ausübt. Anderseits ist diese Stadt ein Moloch, der sie in einen nimmer endenden Sog zieht.

Der rote Faden ihres Romans ist die Suche nach L:

Christa Wolf hat von ihrer verstorbenen Freundin Emma ein Briefbündel von L erhalten. Sie soll mehr über das weitere Schicksal dieser L herausfinden, die in der Nazizeit in die USA emigrierte.

Drei Hauptthemen bestimmen so das Buch:

Erstens ist es die Entwicklung der Autorin, die drei Staatsformen mit allen Konflikten und Auseinandersetzungen erlebt hat. Sie schildert glaubhaft und nachvollziehbar ihre schmerzliche Suche nach Realität. Ihre Ehrlichkeit dabei verlangt Hochachtung.

Zweitens wird auch die Psychoanalyse nach Wahrhaftigkeit befragt, ausgelöst durch die Anekdote zum Freudschen Übermantel.

Drittens die schon erwähnte Person L.

Natürlich forscht Ch. W. in dem „ New Weimar“ nach den deutschen Emigranten der Nazizeit. Sie vertieft die innere Zerrissenheit der Flüchtlinge bis zur Rückkehr in ihre Heimat. Dabei stellt sie den Gegenpart zur Emigration in die Sowjetunion an der Person Willi Bredels dar, der die Schrecken der Stalinzeit erlebt hat. Beeindruckt ist sie von den jüdischen Freunden der „zweiten Generation“. Diese haben oft ihre Eltern oder Angehörige während der Naziherrschaft verloren, zeigen nun aber eine aussöhnende Haltung.

Christa Wolf spricht über deutsche Geschichte und beleuchtet dazu Verhältnisse in den USA, z. B. die Fakten um die Rosenbergs oder Eindrücke bei den Besuchen der Ureinwohner. An der Geschichte der DDR ist für sie entscheidend: Wie habe ich es erlebt und empfunden?
Ihr Glaube an den Sozialismus, eine bessere Welt, ließ sie Mitglied der Partei werden. Aber im weiteren Ablauf der Ereignisse zwingen ihre Zweifel sie zu mutigen Aktionen. Erinnert sei nur an den Auftritt von Christa Wolf auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 (den sie in ihrem Buch gar nicht erwähnt) oder die Protestresolution zur Biermann-Ausbürgerung.
Ihre Wahrnehmungen reiben sich an Diskussionen und Dialogen mit den Freunden im Center einerseits und mit ihren Träumen andererseits.

Die Krise ist programmiert. Deutschlands Stasi-Diskussion über Christa Wolf schwappt über den Ozean. Die kleine „Täterakte“ aus der erwähnten frühen DDR-Zeit löst eine große Kampagne aus, die die Autorin bis ins Mark erschüttert. Dabei hat sie selbst ihre Täterakte entdeckt und veröffentlicht. Sie sucht nach Erklärungen dafür, wie sie selbst ihre Berichte aus der Akte vergessen konnte.
Wer heute die Autorin dafür kritisiert, sollte den riesigen Aktenberg von Stasi-Beobachtungen über die kritische Christa Wolf nicht vergessen.

Von der Euphorie der Wende – der Beitrag Christa Wolfs auf dem Alexanderplatz am 04.11.1989 über die nachfolgende Ernüchterung verläuft der „arge“ Weg der Erkenntnis (sie benutzt diesen Ausdruck von Fürnberg), die Suche nach Wahrheit, nach Realität.

Die Autorin hat einen Schutzengel: Angelina.
Diese Angelina hat in ihrem einfachen Gemüt Christa Wolf behüten können, weil sie einen gesunden Menschenverstand besitzt.
Zum Abschied fragt Angelina: Wohin sind wir unterwegs?
Christa Wolf überlässt uns Leser mit der Antwort „wir wissen es nicht“ unseren Gedanken.