Andres Veiel: Der Kick – ein Lehrstück über Gewalt
Kann man es verstehen, das Jugendliche einen Bekannten eine Nacht lang quälen, ihn dann mit einem Sprung auf den Kopf („Bordsteinkick“) töten und neben einer Jauchegrube verscharren? So geschehen im Juli 2002 in Potzlow. Kann man verstehen, dass die Tat monatelang unaufgeklärt blieb, obwohl es Zeugen und Mitwisser gab?
Andres Veiel geht mit seiner Coautorin Gesine Schmidt der Tat nach. Mit seinem Psychologiestudium und seiner Regieausbildung bei niemand geringerem als Kieslowski scheint der Autor wie kaum ein Zweiter für die Aufarbeitung dieses dramatischen Falls prädestiniert. Sein Dokumentarfilm „Black Box BRD“ erhielt den Europäischen Dokumentarfilmpreis. Auch das bei cbt erschienene Buch „Der Kick“ wurde 2008 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Im ersten Teil lässt Veiel die Täter und ihr Umfeld in eine Art Dialog treten. Einen Dialog, den es so nie gegeben hat. Gerade vom ältesten Täter Marco Schönfeld (damals 23) wird immer wieder ausgesagt, er habe kaum über seine Gefühle und Erlebnisse gesprochen. Gabi Probst vom RBB hat ihre Gesprächsprotokolle mit den Angehörigen und Bekannten sowie den Tätern zur Verfügung gestellt. Andere Dorfbewohner hat der Autor selbst befragt. Der Generalstaatsanwalt Rautenberg gab weitere Anregungen zur Auseinandersetzung mit der Tat. Veiel lässt sie nachholen, wozu sie nie die Gelegenheit genutzt haben.
Teil 2 geht andere Wege der Annäherung. Es konstruiert die Lebensläufe der Beteiligten. Sowohl Opfer als auch Täter waren Zugezogene nach Potzlow und sind dort nie wirklich heimisch geworden. Sie bringen ihre Handicaps mit wie Marco seinen Sprachfehler, der in einer Förderschule therapiert wird. Den einzigen Zusammenhalt scheint die rechte Szene zu bieten, dem sich die Jugendlichen anschließen und gegen den die Eltern machtlos erscheinen. Zwar gibt es für die jungen Schulabbrecher berufsfördernde Maßnahmen, doch sie greifen nicht. Selbst bis in den Strafvollzug hinein, scheinen die Täter trotz mehrfacher Hilfeabbrüche neue Angebote einzufordern.
Zu den Annäherungen gehört auch das Zitieren von Studien zu Rechtsextremismus und Gewalt, sowie ein abschließendes Resümee des Autors. Er maßt sich nicht an zu behaupten wie die Tat hätte verhindert werden können. Seine gründliche Recherche und das Kombinieren unterschiedlicher dokumentarischer Formen ist das Äußerste, was zu leisten ist. „Der Kick“ bietet Arbeitsmaterial für ältere Schüler und Projektmitarbeiter in sozialen Netzwerken. Da aufgrund des Mordes aber die Opferstimmen kaum Raum bekommen, ist es kein Text, der unkommentiert Jugendlichen der rechten Szene in die Hand gegeben werden darf.