Kurt Franz / Ursula Tapia Guerrero: Deutsche Märchen aus Patagonien
Eine sehr besondere Märchensammlung ist im Königsfurt-Verlag Ende 2007 erschienen. „Deutsche Märchen aus Patagonien“. Patagonien – ein Land, das so weit von Europa entfernt ist, dass es nicht zu den üblichen Urlaubsländern zählt – liegt im äußersten Süden Südamerikas und hat Anteil an Chile und Argentinien. Trotz seiner Entfernung zu Deutschland zog es Anfang 1800 im Zuge seiner Befreiung von der spanischen Krone die deutschen Einwanderer an. Diese Einwanderer rodeten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Urwald und waren darauf angewiesen, die Sprache der Ureinwohner zu erlernen.
An deutschen Büchern stand ihnen weitgehend nur zur Verfügung, was sie im Gepäck hatten, bzw. was ihnen aus der Heimat zugeschickt werden konnte. Diese literarische Tradition stellte einen großen Wert dar, verschmolz aber etwa in der dritten und vierten Einwanderergeneration mit dem dort vorgefundenen Erzählgut. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten sich so feste Formen entwickelt, dass begonnen wurde, sie in kleinen Büchern und vor allem Zeitungen festzuschreiben. Federführend bei dieser Märchensammlung war Schwester Ursula Tapia Guerrero, die an der Universität in Santiago Deutschlehrer ausbildet, selbst deutsche Wurzeln hat und sich immer noch einige Monate im Jahr in Deutschland aufhält. Von ihr stammt auch das sehr aussagekräftige Nachwort zu den Märchen, das sowohl allgemein auf den kulturell-soziologischen Hintergrund der Märchendichtung als auch auf einzelne Texte eingeht.
Bei der vorliegenden Sammlung handelt es sich also um relativ junge Märchen, die ihren Charme gerade daraus entwickeln, dass sie sich nicht nur auf klassische deutsche Märchenensemble beschränken. Große Anleihen beziehen sie aus der südamerikanischen Flora und Fauna, sagenhaft stellen sie Orte in Patagonien in den Mittelpunkt. Entsprechend der örtlichen Gegebenheiten spielt das Meer in diesen Märchen immer wieder eine besondere Rolle (z.B. Der Kindsfisch, Der Seestern). Neben Elfen, dem klugen Klaus oder Prinzen kommen häufig Seefahrer vor (Der Däumling aus Patagonien u.a.). Der Wunsch, „die gute Mutter einmal wieder zu sehen“, mag dabei ebenso eine Anleihe der bei der Geburt sterbenden leiblichen Mutter in deutschen Märchen sein wie die reale Erfahrung von Auswanderern.