Belletristik

Kerstin Hensel: Im Spinnhaus

Eine Forderung Luthers lautete: dem Volk auf’s Maul schauen. An sie ist man erinnert, wenn man Kerstin Hensels locker gewebtes „Spinnhaus“ (erschienen bei Luchterhand, 2003) liest. Nachdem sie in den Geschichten aus „Neunerlei“ kauzigen Berliner Kneipengängern aufs Maul, ins Gesicht und Leben schaute, verlegt sie jetzt den Schauplatz ins Erzgebirge. Abseits vom Dorfe nimmt sie ein ganzes Jahrhundert unter die Lupe, das in einer ehemaligen Spinnerei lebt. Dabei webt sie alles in die Sprache ein, was das Jahrhundert ausmacht: Politik und Liebe, Persönlichkeit und Kollektivität und nicht zuletzt ihre eigene Poetizität.

Hensels Blick auf Kinder, Mütter, Ärzte und Alte ist genau, doch ohne direkt zu entblößen. Katastrophen gewinnt sie fast schon eine mythische Tiefe ab, ohne jedoch in ein pathetisches Klischee zu verfallen. So wie Hensel nicht nur die Geschichte des Jahrhunderts und seiner kleinen und großen Persönlichkeiten nacherzählt, so lassen sich auch ihre Texte nicht nacherzählen, sondern nur Lesern empfehlen, die Land und Sprache wahrnehmen wollen.