Belletristik

Evelyn Grill: Der Sohn des Knochenzählers

Inzwischen darf man sich auf den ersten Blick dazu bekennen, dass man erfreut ist, wieder einmal ein schmales Bändchen von 130 Seiten in die Hand zu bekommen. Ein leserfreundlicher Umfang, den Verlage lange Zeit nicht mehr gern produziert haben. Dabei kennen wir doch alle die Binsenweisheit: In der Kürze liegt die Würze. Aber auch inhaltlich kann dieses Urteil für den Roman „Der Sohn des Knochenzählers“ der österreichischen Autorin Evelyn Grill (1924) nur bestätigt werden. Am Ende liest man schneller und schneller und wird mit dem Schluss schließlich ausgebremst. Halt suchend fragt man sich: Was war das jetzt? Krimi, Milieustudie, Familientragödie, Psychogramm eines Provinzdorfes? Von allem ein bisschen und vor allem ein gutes Stück Literatur, über dessen Verlauf besser nicht zu viel verraten wird.

Im Mittelpunkt steht das scheinbar mysteriöse Verschwinden von Benita. Sie ist die Mutter des Haupthelden Titus, der gerade die Matura (das österreichische Abitur) abgelegt, aber keine Idee hat, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen will. Sein Vater ist Archäologe („Knochenzähler“) und hat seine Frau vor knapp 20 Jahren bei einer Forschungsreise in Italien kennen gelernt und geheiratet. Für das Dorf bleibt die wunderschöne eine Fremde. Einzig und allein ihre Haushälterin Agnes findet Zugang zu ihr. Mit ihrem Sohn Titus verbindet sie eine – zum Teil unheilvolle – Nähe. Benitas Tod wirft viele Fragen auf. Was ist das für ein abgelegenes Tal, das die Sonne so entbehrt; in dem jährlich Tote beklagt werden müssen; das Touristen anziehen möchte, in dem es seinen Friedhof zu einem Prunkstück und einem Kulturzentrum stilisiert? Aber auch wie kam der kauzige Knochenzähler zu so einer exotischen Schönheit? Welcher Graben liegt zwischen Vater und Sohn? Und schließlich was kann unter den mehr und mehr aufgedeckten Geheimnissen der älteren und jüngsten Vergangenheit aus ihm werden?

Die Autorin erzählt ihre Geschichte mit sehr viel psychologischem Einfühlungsvermögen, allerdings ohne unangenehm zu „psychologisieren“. Statt dessen nutzt sie die Details in Haus und Provinzdorf ganz im Sinne der Schauerromantik und schafft von Seite zu Seite mehr ein beklemmende Atmosphäre, die den Leser nicht loslässt.

Evelyn Grills „Der Sohn des Knochenzählers“ ist im Residenz Verlag erschienen, aber selbstverständlich auch im deutschen Buchhandel für 17,90 Euro erhältlich.