David Wroblewski: Die Geschichte des Edgar Sawtelle
Es gibt nicht viele Bücher, die man nach dem Lesen langsam aus der Hand legt, mit dem pathetischen Bedürfnis sich vor dem Autor einfach nur still zu verneigen. Für mich gehört der Wälzer von David Wroblewski „Die Geschichte des Edgar Sawtelle“, die der amerikanische Überraschungserfolg von 2008 ist, eindeutig dazu. Fast unangenehm ist es, zu bekennen: Es geht um einen stummen Jungen aus dem mittleren Westen der USA (Wisconsin) und seine Hunde. Dieses Thema scheint sich zunächst nur jenen zu öffnen, die eine Nähe zu Hunden haben. Tatsächlich waren die Eltern des Autors Hundezüchter in Wisconsin, genau wie die Eltern seiner Hauptfigur Edgar Sawtelle.
Die Sawtelle-Hunde sind etwas Besonderes. Bereits der Großvater Edgars versuchte Hunde zu züchten, die dem Menschen sowohl bedingungslos gehorchten, als auch eigenständige Wesen bleiben sollten. Mit einer großen Zuchtfarm führt er per Brief einen moralischen Disput darüber, ob man Hunde in Bezug auf einzelne Eigenschaften dazu auswählen darf oder ob es dem Leben nicht gerechter würde, die Hunde genau zu beobachten und ihre besten Anlagen individuell zu fördern. Der Junge Edgar hat kaum Zeit, sich mit diesen alten Briefen auseinander zu setzen. Denn sein Vater nimmt seinen Bruder Claude, der 20 Jahre in Vietnam war, wieder auf der Farm auf. Alter Bruderzwist, den weder die Mutter noch Edgar wirklich verstehen, bricht zwischen den Männern immer wieder auf und eines Nachts findet Edgar seinen Vater tot in der Scheune. Hat sein Onkel Claude, der die Farm verlässt, etwas damit zu tun? Die Frage gerät angesichts des notwendigen Überlebenskampfes von Mutter und Sohn in den Hintergrund. Können sie die Zucht fortführen? Nur einer von ihnen braucht ernsthaft zu erkranken, eine Naturkatastrophe das Haus zu erschüttern oder anderes passieren und das Lebenswerk von Generationen gerät ins Wanken. Tatsächlich wird die Mutter krank und Claude kehrt auf die Farm zurück um zu helfen. Er scheint damit eine wichtige Stütze für die Mutter zu werden. Doch Edgars Misstrauen kann er nicht auslöschen. Edgar entdeckt Hinweise darauf, dass er seinen Vater getötet hat. Mit drei Hunden seines ersten eigenen Wurfs versucht Edgar in die Starchild Colonie zu fliehen, aber als einer seiner Hunde erkrankt, erkennt Edgar, dass das nicht sein Weg sein kann. Er kehrt zurück und sucht Wege, Claude zu überführen. Doch Claude ist skrupellos. Er hat bereits ein Netz gespannt, um Edgar unschädlich zu machen. Am Ende reißt es nicht nur Edgar, sondern auch ihn selbst ins Verderben.
Mit der Geschichte um Edgar Sawtelle über Bruderzwist, Vatermord, Rache und Schuld ist dem bis dahin unbekannten Softwareentwickler ein zu Herzen gehender moderner Klassiker gelungen. Freunde amerikanischer Literatur werden vielleicht an Jack London denken, ostdeutsche Leser an Tschingis Aitmatow. Der Autor selbst mit seinem ursprünglichen Wunsch Schauspieler zu werden, hat an nichts Geringeres als Shakespeares Hamlet gedacht. Die Hundezucht ist Edgars Dänemark, die alte Ladenbesitzerin Ida Paine eine der weissagenden Hexen und im Showdown des Romans erblindet der Polizist Glen, der Edgar zum Tod seines Vaters befragen wollte. Der Autor widmet sich mit lange nicht mehr gekannter Intensität den Details der kleinen Sawtelle-Familie und ihrer täglichen Arbeit mit den Hunden. Und in Erinnerungen oder neuen Sequenzen scheut er sich nicht, diese Details auch wiederholt aufzugreifen und sacht zu modifizieren. Damit webt er ein Netz um seine Leser und zieht sie Seite um Seite tiefer in eine Familiengeschichte hinein, die auf den letzten hundert Seiten zu einem rasanten Thriller wird. David Wroblewski hat diesen Roman aus keinem anderen Grund geschrieben, als dass er ein Buch über die enge Beziehung des Menschen zum Hund vermisst hat. Es ist ein Buch geworden, ohne dass wir tatsächlich ärmer wären. Wer sein Herz unseren Ursprüngen öffnen will, der sollte an ihm nicht vorbei gehen.