Belletristik

Robert Walser: Der Räuber

Der vierte erhalten gebliebene Roman des 1878 geborenen Schweizer Dichters Robert Walser liegt nur im Entwurf aus dem Nachlass vor. Dieser Entwurf stammt aus dem Jahr 1925. Ähnlich wie der etwa zur selben Zeit entstandene Roman Der Steppenwolf von Hermann Hesse zeigt der Text spiegelbildlich die Situation einer ganzen Epoche am Beispiel eines vereinzelten Außenseiters, dem es nicht gelingt, „sich der bürgerlichen Ordnung brav anzuschmiegen“. So wird die Hauptfigur, eben der „Räuber“, gleich auf den ersten Seiten als „Nichtsnutz“ bezeichnet, als „Schafskopf“, den sie „behandeln […] wie einen richtigen Abgetanen“. Dieser abgetane Nichtsnutz, „der kein Geld besitzt“, so eine „eigenartige Existenz“ schuldet der Gesellschaft Rechtfertigung. Wobei derselbe soziale Legitimationsdruck auf dem Erzähler-Ich wie auf der Romanfigur des „Räubers“ – die Grenzen sind dahingehend nicht immer klar erkennbar – lastet; eine Erfahrung, die auch der Autor Robert Walser selbst teilen musste, der zu der Zeit in prekären finanziellen Verhältnissen lebte, zwar Prosastücke und Gedichte in Zeitungen veröffentlichen konnte, aber auch viele begonnene Arbeiten liegen ließ oder für den Nachlass produzierte, und innerhalb Berns unseriös häufig die Wohnung wechselte.

Auch was die Erzählstrategie betrifft, weigert sich das beschreibende, willkürlich abfolgende, doch figural und motivisch verwandte Episoden präsentierende Ich, sich in den 35 unbetitelten Abschnitten mit der linearen Norm zu arrangieren. Walsers literarische Methode, heißt es im Nachwort von Martin Jürgens, sei „Lob des Aufschubs“, „Diskontinuität des Erzählens“, die „als kunstvolle Sprachverwilderung anzusehen“ sei. Das erzählende Ich ist zuverlässig in seiner Unzuverlässigkeit. Die wiederholten Hinweise und Ankündigungen, auf bestimmte Figuren, Gegenstände und Situationen noch zurück zu kommen und ausführlicher zu thematisieren, erweisen sich als trügerisch. Das scheint Walser bzw. den Erzähler genauso wenig zu interessieren wie die Frage nach dem so genannten moralischen oder literarischen Mehrwert seiner Arbeit. Denn früh im Text wird angekündigt, es handele sich „hier [um] ein besonnenes Buch […], aus dem absolut nichts gelernt werden kann. Es gibt nämlich Leute, die aus Büchern Anhaltspunkte fürs Leben herausheben wollen. Für diese Sorte sehr ehrenwerter Leute schreibe ich demnach zu meinem riesiggroßen Bedauern nicht.“ Gegen Ende des besonnenen Buches heißt es dann sogar in einem „Resümee“: „Das Ganze kommt mir übrigens vor wie eine große, große Glosse, lächerlich und abgründig.“ Und ironisch wird die banale, entscheidende Entstehungsursache dieser Prosa „der allerklarsten Unklarheit“ nachgeliefert: „Ein Aquarellbildchen, das ein jugendlicher, kaum dem Knabenalter entwachsener Maler ausführte, gab uns zu all diesen kulturellen Zeilen den Anlaß. Freuen wir uns dieses Sieges der Kunst.“ Mit dem „Aquarellbildchen“ ist ein Bild gemeint, das Robert Walsers Bruder Karl im Jahr 1894 von ihm gemalt hat. Es zeigt den etwa fünfzehnjährigen Robert Walser in phantastischer Räuberkostümierung. Aquarell und Kostüm gehen letztlich auf Walsers frühe Begeisterung für Schiller und Die Räuber zurück. Den Status eines großen Klassikers der deutschen Literaturgeschichte wie Schiller oder Kafka, als dessen literarischer Vorläufer er häufig bezeichnet wird, erlangt der rätselhafte Robert Walser, der 1929 in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, 1933 nach Herisau verlegt wird, im selben Jahr jede literarische Produktion einstellt, woran sich bis zu seinem Tod 1956 nichts mehr ändert, wohl nicht mehr. Was aber kein Argument gegen die Empfehlung dieses, erst 43 Jahre nach seiner Entstehung wieder entdeckten Romans ist, der Walsers zu Beginn des 20. Jahrhunderts offiziell erschienene Romane Geschwister Tanner, Der Gehülfe und Jakob von Gunten an Experimentierfreude und Radikalität übertrifft.