Michael Kohtes: Literarische Abenteurer
Der Schriftsteller, Essayist und Journalist Michael Kohtes, der in diesem Jahr mit 365 Tage. Ansichten von K. ein aus der Perspektive eines Großstadtflaneurs des 21. Jahrhunderts verfasstes, ungewöhnliches Collage-Tagebuch vorgelegt hat, porträtiert in dem 1996 erschienenen Band Literarische Abenteurer dreizehn poetische Grenzgänger der literarischen Moderne. Nicht den „kanonisierten Mumien im Mausoleum der Belletristik“ gilt sein Interesse, sondern „Nix-Künstler und Desperados, Verfemte und Ausreißer, Sonderlinge und Lebensmüde“ stehen hier im Fokus. Von denen alle, bis auf den Wiener Aphoristiker und Kaffeehaus-Bohemien Peter Altenberg, in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Wobei die wenigsten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts durchgehalten haben, aus Gründen, die nicht selten in Zusammenhang mit Drogenkonsum und Suizid stehen. Oder, wie im Fall Walter Serner, mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, denn Serner wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Serner mit seinen pointierten Ganoven-Stories und zynischen Bonmots dürfte wohl zum personell und künstlerisch am wenigsten vergessenen Teil des von Kohtes vorgestellten Rand-Panoptikums der europäischen Avantgarde gehören. Neben Kurt Schwitters und seinem berühmten dadaistischen Liebesgedicht „An Anna Blume“ sowie dem unverwüstlichen Blaise Cendrars, der immerhin einen Fan und Freund namens Henry Miller hatte.
Außer Serner und Schwitters kommen epochal bedingt weitere Protagonisten aus dem Dunstkreis des Dadaismus. Etwa der größenwahnsinnige „Oberdada“ Johannes Baader alias Jesus Christus oder Johannes Theodor Baargeld, der gemeinsam mit Max Ernst und Hans Arp eine Kölner Dada-Filiale gründete. Zudem der Pariser Nihilist Jacques Rigaut, der sich „nie außerhalb der Langeweile“ wähnte, in ihr die „einzige Wahrheit“ erblickte und dessen in einem Buch zusammenfassbares Gesamtwerk nicht zufällig den Titel Suizid trägt.
Ähnlich schreibfaul aus Prinzip gab sich Arthur Cravan, Boxer und Poet, außerdem Neffe von Oscar Wilde. Sein Motto lautete: „Die Kunst, die Kunst, ich pfeife auf die Kunst!“ Eine vergleichbare Antwort gab der bereits erwähnte Cendrars, wenn auch weniger dekadenter Dandy als vitaler Weltenbummler, auf die Frage eines Journalisten nach seinem Brotberuf: „Hinträumen, Nichtstun.“
Zu den weiteren vorgestellten „riskante(n) Asphaltkarrieren mit Drall zu einer parapoetischen Existenzform“ zählt u.a. die von Yvan Goll, der vielleicht noch von dem Standardwerk expressionistischer Lyrik, der Anthologie Menschheitsdämmerung bekannt sein könnte. Einzige Frau unter den dreizehn literarischen Außenseitern ist Jean Rhys, die 1966, nach Jahrzehnten des Verstummens, als man mit Grund annehmen konnte, die unsentimentale Berichterstatterin von Entfremdung und Isolation sei endgültig dem Alkohol verfallen, ihren erfolgreichsten Roman veröffentlichte: Wide Sargasso Sea, inzwischen zweimal verfilmt.
Ob es sich bei Literarische Abenteurer streng genommen um ein Sachbuch handelt, ist nicht eindeutig zu beantworten, da der sich hier als „Spaziergänger in den abgelegenen Gefilden der Literaturgeschichte“ verstehende Kohtes sich sicherlich nicht eines zurückhaltenden, kühl wissenschaftlichen Schreibstils bedient. Aber das macht die Wiederentdeckung der mehrheitlich aus dem kulturellen Bewusstsein Europas verschwundenen „Pioniere des kleinen Grenzverkehrs zwischen E und U, Magie und Alltag“, der „frühen Kostümberater von Pop, Punk und Potzmoderne“ um so reizvoller.
Kohtes´ Kurzporträts erschienen in Zeitschriften und Zeitungen, einige Texte sind Originalbeiträge.