Belletristik

Ronan Bennett: Zugzwang

Eine Liebesgeschichte, mehrere Morde, Psychoanalyse, anderthalb Vater-Tochter-Geschichten und ein Weltklasse-Schachturnier vor dem Hintergrund von Klassenauseinandersetzungen 1914 in St. Petersburg: das ist der Cocktail, den Ronan Bennett in seinem unglaublich packenden Roman „Zugzwang“ serviert.

Dr. Otto Spethmann, bekannter Psychoanalytiker mit jüdischen Wurzeln, dem jedwede Zeit fehlt, sich mit den aktuellen politischen Auseinandersetzungen in seiner Stadt St. Petersburg zu beschäftigen, wird Zug um Zug in den Strudel politischer Ereignisse hinein gerissen. Sie fordern seinen Intellekt und seine Menschlichkeit gleichermaßen.

Die erste Verhaftung von ihm und seiner Tochter durch den Polizisten Lytschew scheint ihm nur ein unerklärlicher Irrtum zu sein. Aber die Polizei macht ihm klar, dass seine Tochter längst den Kinderschuhen entwachsen ist und möglicherweise mit hochrangigen bolschewistischen Genossen verkehrt. Aber auch Lytschew muss erkennen, dass Spethmanns Tochter unbeugsam ist und ihre Beziehungen nicht einmal ihrem Vater zuliebe Preis gibt. Beide werden entlassen, stehen aber unter strengster Beobachtung, zumal Spethmann einen bekannten Patienten angenommen hat: Rozental, ein Jude, der den amtierenden Schachweltmeister herausfordert. Allerdings befindet sich Rozental in einer psychisch sehr labilen Verfassung und braucht Späthmanns Unterstützung, um das Turnier zu gewinnen. Spethmanns Freund, der berühmte Musiker Kopelzon, ebenfalls Jude, ist bereit, für die Kosten aufzukommen. Wenn Rozental das Turnier gewinnt, wird ihm stellvertretend für alle Juden die Ehre einer Audienz beim Zaren zuteil.

Aber nicht nur die Polizei und die bolschewistische Partei beobachten Spethmann: Der Psychoanalytiker behandelt eine weitere interessante Patientin: Anna, die Tochter des Geheimdienstchefs. Und wider aller beruflichen Kompetenz verliebt sich Spethmann in die junge Frau und geht ihrer Vergangenheit mehr nach als es ihrem Vater und Geheimdienstchef lieb ist.

Die Konstellationen, die hier auf engsten Raum zusammen getragen sind, entwickelt der Autor in einem gemäßen erzählerischen Tempo. Er nimmt sich Zeit, die unverfängliche Ausgangslage zu schildern und gibt den Figuren Raum für Entwicklungen. Spethmann kann sich der Politik nicht entziehen und einer seiner erstaunlichsten Kameraden wird ausgerechnet der pflichtbewusste Polizist Lytschew. Erst auf den letzten 20 Seiten kommt es zu einem packenden Show-down, dessen Hintergrund ein zweiter politischer Blutsonntag ist.

Auf eine sehr moderne Weise, mit viel historischen Abstand und Verstand, stellt sich ein englischer Autor fast schon in die Tradition sowjetischer Literatur, die immer wieder die Frage nach der Möglich- oder Unmöglichkeit von Neutralität in Klassenauseinandersetzungen aufwarf. Anders als diese bringt er aber noch weitere Interessen ein, wie die der Juden.