Inge Rickert

  • 1948 geboren und aufgewachsen in Hamburg
  • tätig als Verwaltungsangestellte bei der Freien und Hansestadt Hamburg
  • schreibt Gedichte und Kurzgeschichten
  • Lesung bei der monatlichen Veranstaltung „Spätlese“ im Kulturhaus Dehnhaide und im Rahmen der Rahlstedter Kulturwochen 2006
  • Veröffentlichung von Kurzgeschichten:

    • „Dresden – Musik und mehr“
      www.reisebibliothek-dresden.de (2004),
    • „Weihnachtszauber“
      www.online-roman.de (2005),
    • „Der blaue Schatz“
      www.schreibfeder.de (2006) und
      Preisträgerin beim Schreibwettbewerb 2006
      von Schreibfeder.de „…total verboten“

Der blaue Schatz

Als Anna, die Tochter des ehrbaren Hamburger Kaufmanns Benedict Altstädter noch klein war, schrieb man Anno Domini 1343. Die warme Junisonne strahlte vom himmelblauen Firmament über der stolzen Hansestadt am Elbstrom. Die Glocken der Kirchspiele läuteten feierlich den Sonntag ein. Die kleine Anna drückte den Türknauf der hölzernen Pforte auf, die zum Küchengarten führte. Sie war es leid, am Krankenlager von Jacob, ihrem kleinen Bruder auszuharren, den ein hitziges Fieber ergriffen hatte. Helene, die vertraute Amme, sorgte für ihn. Kindliche Neugierde trieb sie und ihre jüngere Schwester Gertrude ins Freie. Anna hüpfte voller Eifer den schmalen Weg am Blumenbeet entlang ohne auf die mahnenden Rufe Gertrudes und die Glocken von St. Katharinen zu hören. “Du weiß es doch, die Mutter hat es streng verboten, wir dürfen nicht auf die große Wiese!” Anna entgegnete ungeduldig “Ach was, Du bist ein Angsthase – was soll schon passieren?“ “Aber nein – die Gaukler sind wieder in der Stadt!” Trude stampfte mit dem Fuß auf. “Ich werd`s der Mutter sagen!“ drohte sie Anna. “Du dumme Gans, tust Du ja doch nicht, hä, hä, hä” neckte sie ihre Schwester und verschwand durch das Rosentor aus dem Küchengarten. Gertrude blieb einsam und verloren auf dem Pfad zurück, jammerte und weinte. “Gewiss werden Dich die Gaukler holen!” Schon bald hatte Anna den Hausgarten hinter sich gelassen und spazierte verträumt durch das Feldstück, das zum Ufer der Alster führte. So entdeckte sie ganz versteckt feine königsblaue Blumen, die sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie pflückte davon so viele wie ihre kleinen Hände fassen konnten. Da wurde sie jählings gewahr, wie weit sie sich entfernt hatte und kehrte eilends um. Als sie sich ins Haus schleichen wollte, entdeckte sie Hedwig, die Köchin. Sie rügte das Ännchen ob des ungebührlichen Streifzugs und nahm ihr das Blumengebinde ab. Sie legte es achtlos auf das Holzregal über dem Feuerkessel, in dem schon die Hafersuppe für das Mittagsmahl köchelte. Wenig später kam Helene in die Küche und sah die mit so viel Liebe gepflückten zartblauen Blumenstängel in der Suppe treiben. Oh je – schnell fischte sie die unwillkommene Zutat heraus und füllte eine Schale mit ein wenig Suppe für das kranke Kind. Nur in kleinen Schlucken flößte sie ihm das Süppchen ein und danach fiel es in heilsamen Schlaf. Als die besorgte Mutter nach Jacob zu schauen kam, schlug er gerade seine Augen auf und war vom Fieber befreit! Im Hause des Hansekaufmanns waren alle hocherfreut über die schnelle Gesundung des Stammhalters, die man dem blauen Heilkraut zuschrieb. Der verbotene Weg jenseits des elterlichen Gartenzauns brachte Anna überreichliche Anerkennung als rettender Engel des jungen Lebens und gewisslich großes Ansehen als Finderin des nun so genannten “Annenkräutleins”.
Die alte Helene trug das Kuriosum des blauen Wunders am nächsten Morgen aufgeregt dem Apotheker Martinus vor, der sofort die heilsame Wirkung für sich zu nutzen wusste: Schnell entschlossen erwarb er ein beträchtliches Landstück am Alsterufer. Er verkaufte die getrockneten Zauberblüten zu 5 Schilling die Unze an jedermann, der sich diese Summe leisten konnte. Schon bald zog Wohlstand in seinem Hause ein. Bei seinem nächsten Besuch bei Wenzel, dem Schankwirt am Hopfenmarkt, beriet er sich mit dem Brauer Simon wie das Kräutlein auch auf andere Weise reichen Ertrag bringen könne. Simon erprobte, die kleinen Blätter dem Bier als Würze beizufügen. In kurzer Zeit drängten sich die Gäste nun im Wirtshaus “Zur blauen Blume”, um sich an dem köstlichen Gebräu aus den Schenkkannen zu laben. So mancher Sechsling fand seinen Weg in den Geldbeutel des Wirts. Die Kunde vom blauen Blumenwunder verbreitete sich schneller als es der Brand im vorigen Sommer vermocht hatte. Später im Jahreslauf als die pflaumenblauen Früchte der Pflanze reiften, gelang es Georg, dem Färber, damit den Wollstoffen leuchtende Blautöne zu geben. Annas Vater trieb als wohlhabender Tuchhändler gewinnbringenden Handel mit den vor allem vom Adel begehrten Tuchen in den Hansestädten Lübeck, Danzig und Riga bis in das ferne Nowgorod.
Der Krämer Albert Pollak führe seine Geschäfte nicht so ertragreich wie gewünscht und es gelüstete ihn mächtig, ein prächtiges Stadthaus zu besitzen. Dazu sollte ihm das Annenkräutlein verhelfen. Dieses hatte so vielen Bürgern Reichtum gebracht, nun wollte er auch daran teilhaben. Eines Nachts stahl er heimlich einige Pflänzchen aus dem Feld des Apothekers. Er zerrieb die indigoblauen Wurzeln, kochte das Pulver unter Beimengung von Bienenwachs und ließ es zu einer festen Masse erkalten, aus der er dunkelblaue Kügelchen formte. Er gedachte sie als heilsames Mittel gegen gestörte Nachtruhe feilzubieten. Auch für den Fall, dass die pflanzlichen Stoffe keinen Schlaf spenden sollten – sicherlich würde schon der feste Glaube an das Wunderkraut die gewünschte Wirkung bringen – so dachte er. Als Mitglied der Kaufmannsgilde wusste er sehr wohl, dass einzig dem Apotheker dieser Handel gestattet war. So lange er genügend verschwiegene Käuferschaft unter den Bürgern Hamburgs fand, musste er nur die Entdeckung durch den Gildemeister fürchten.
Zum Weihnachtsfest konnte sich Anna mit einem neuen atlasblauen Schnurmantel schmücken. Stolz schritt sie durch die Gassen bis sie zum Haus ihrer Kusine Elizabeth in der Rosenstraße. Lissi sprang ihr erfreut entgegen, um sie zu begrüßen. Anna drehte sich hoheitsvoll im Kreise, um den weichen Fall des Tuches und das strahlende Blau zur Geltung zu bringen. “Oh, Anna, wie wunderschön der Mantel ist!“ rief sie. Lachend fielen sie sich in die Arme. Da öffnete Tante Klara die Türe und winkte: “Kommt Kinder, wir wollen zum Krämer gehen!” Die Kusinen waren sofort bereit, denn beim Krämer Pollak gab es oft eine kleine Köstlichkeit zum essen. Der alte Laden lag versteckt in der Hafengasse, nur wenig Licht fiel durch die winzigen Pergamentfenster. Fast den lieben langen Tag brannte ein Öllämpchen und warf einen schwachen Schein über die Herrlichkeiten in den Regalen. “8 Loth von den Teeblättern” verlangte die Gemahlin des Lehrers. Die beiden Mädchen kicherten aufgeregt und erkundeten die angebotenen Waren, zupften vorsichtig an den Säcken und schnupperten in geheimnisvollen Ecken. “Still ihr kleinen Quälgeister. Nur noch ein Quentchen Salz” wies sie den Krämer an. Dieser maß die Menge auf der Waage ab und verpackte sie flink in ein Tütchen. Nun meinte Pollak, war die Zeit gekommen, das Ergebnis seiner geheimen Proben unter dem Ladentisch hervorzuholen. “Darf ich der Frau Schulmeisterin eine besondere Kostbarkeit empfehlen: Eine Arznei gegen den mangelnden Schlaf. Ihr klagtet neulich über viele wache Stunden des Nachts. Mögen ein paar Kügelchen davon ihnen helfen, erholsame Nachtruhe zu finden” pries Pollak sein Wundermittel an. “Ihr seid bevorzugt die erste Kundschaft, der ich dieses Zaubermittelchen aus den Wurzeln des Annenkräutleins anbieten kann” bemerkte er. Die Tante war nach einigem Zögern geneigt, das Kaufangebot anzunehmen. Sie hatte schon so manches teure Heilmittel des Apothekers probiert, aber ohne rechten Erfolg. “Berichten Sie mir bald von ihren wunderbaren Träumen” wünschte Pollak, bevor er die Ladentür hinter der honorigen Kundin schloss.
Alsbald im neuen Jahr traf Klara ihre Nachbarin Marie Schreiber, die Angetraute des Richters, die ihr Leid klagte: “Es ist gar schrecklich. Nie schlafe ich unbesorgt, den Ruf des Nachtwächters höre ich zu jeder Stunde!“ Klara nickte verständnisvoll “Oh ja, das ist auch mein Kummer. Aber da hat mir der Krämer Pollak eine wundersam wirksame Schlafhilfe anvertraut – versuche davon!” Klara gab ihr eines der hoffnungsvollen Kügelchen und Marie nahm es schon zur nächsten Nacht. Die Wirkung trat unverzüglich ein. Sie schlief von einem Glockenschlag zum nächsten. Nur diese eine Kugel der kleinen “Bläulinge” verhalt ihr zu tiefem Schlaf. Sie würde nie wieder eine davon nehmen müssen – denn Maries Bediente fand die Herrin des Hauses am nächsten Morgen leblos im Bette vor. Den gewissenlosen Verursacher dieses Schicksalsschlages erreichte die Todesnachricht durch seine geschwätzige Haushälterin. Die mögliche todbringende Wirkung der Wurzeln hatte er nicht bedacht! Damit war sein Schicksal besiegelt; nicht nur die Gilde würde ihn verstoßen, auch die Härte des Gesetzes musste er fürchten. Seine Begierde nach Reichtum hatte ihn alle Achtung vor dem Besitz seiner Nachbarn und die Grundsätze ehrbarer Kaufleute vergessen lassen. Pollaks überhastete nächtliche Flucht über die Stadtgrenze hatte Matthias Schreiber, der Mann des Rechts als schwer getroffener Witwer, zu verhindern gewusst. Die gewarnten Torwächter nahmen den gesetzlosen Händler sofort in Gewahrsam. Seine Beteuerung, dass er keine schuldhafte Tat begangen habe, fand keine Gnade vor der Hohen Gerichtsbarkeit, sie fällte ihr Urteil: Tod durch den Strang. Krämer Pollak wurde am 10. Tag des Monats März dem Henker übergeben. Anstatt Silbermünzen mit dem “Blauen Schatz” anzuhäufen, hing er nun am Galgen vor dem Dammtor.

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