Michael Tsokos / Saskia Guddat: Deutschland misshandelt seine Kinder
Michael Tsokos leitet als Rechtsmediziner das Institut für Rechtsmedizin der Charité in Berlin.
Saskia Guddat ist Fachärztin für Rechtsmedizin an diesem Institut und Mitglied mehrerer Berliner Kinderschutzgruppen.
Beide Autoren legen ein aufrüttelndes Buch vor. Sie haben die Erfahrung im Umgang mit Missbrauchsopfern, Tätern sowie Behörden und konfrontieren die Leser mit Tatsachen der Kindesmisshandlung. Unvorstellbare Taten werden an den Hilflosesten unserer Gesellschaft, den Kindern, verübt:
Schütteltraumen, Schläge, Tritte bis zu Knochenbrüchen und Leberriss, Handverbrennungen bei Säuglingen an der glühenden Herdplatte, Skalping (Abreißen der Schädeldecke) und noch viele andere Grausamkeiten werden geschildert.
Wir lesen, dass jährlich 200.000 Kinder in Deutschland misshandelt werden, und 320 davon überleben ihr Martyrium nicht.
Ausführlich wird auf die Fragen eingegangen:
Wer sind die Täter?
Was ist ihr Motiv?
Wer sind die Versager bei der Verhütung solcher Taten?
Was muss zur Verhütung getan werden?
Die Täter sind meistens aus der engsten Familie: Mutter, Vater oder Lebensgefährte der Mutter.
Sadistische Verhaltensweisen, Brutalität, in der Kindheit durchgemachte Misshandlung (aus Opfern werden Täter) sind oft die Ursachen der grausamen Verletzungen. Selten sind es Überforderungen bei jungen Müttern mit chronischen Schreikindern.
Eindringlich werden uns Lesern von den Autoren Schicksale chronisch misshandelter Kinder beschrieben: mit starrer Aufmerksamkeit sehen die gequälten Kinder den untersuchenden Arzt an, ohne nur einen Schmerz bei der Berührung der schweren Verletzung zu zeigen – man nennt das „frozen watchfulness“ – gefrorene Aufmerksamkeit.
Oder sie begegnen jedem Menschen in ihrer Umgebung mit distanzloser Zuwendung. Anstatt zu schreien, wenn sich ihnen ein Fremder nähert, strahlen sie ihn an. Aus Erfahrung wissen sie, dass niemand sie beschützt, wenn sie um Hilfe schreien, deshalb versuchen sie, ihr Gegenüber mit einem Lächeln zu entwaffnen.
Die Misshandlungen wiederholen sich regelmäßig und das wehrlose Kind durchlebt ein Martyrium. Deshalb ist die Trennung des Kindes aus seiner Umgebung die erste erforderliche Maßnahme.
Dann kommen die mutigen Autoren zum Kapitel: Wie kann das alles geschehen?
Versagen beim Jugendamt, Versagen der Bürokratie, beim Gericht – hier wird oft nicht den Ermittlern, sondern den Tätern mit ihren scheinheiligen Lügen geglaubt.
Schonungslos greifen Guddat und Tsokos Fehler im System Jugendhilfe und Gesellschaft auf und fordern entsprechende Gesetze für die Ausbildung der Mitarbeiter im Jugendamt, Ausbildung des Personals im Krankenhaus bis zur generellen und professionellen Leichenschaupflicht bei Kindern und Jugendlichen.
Kapitel 12 spricht uns als Umgebung dieser misshandelten Kinder an: Was können wir wie tun?
Dieses mutige Buch ist eine Anklage gegen Missstände unserer Gesellschaft, die die schwächste Gruppe betrifft: die wehrlosen Kinder.
Es geht uns alle an und fordert uns heraus.